Der jährliche Urlaub ist für die Erholung und damit für die Gesundheit aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (nachfolgend: Arbeitnehmer) essentiell. Dadurch wird auch die Arbeitsfähigkeit erhalten. Arbeitnehmer werden aus diesem Grund durch das BUrlG geschützt, sie haben Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub, den gesetzlichen Mindesturlaub (§ 1 BUrlG). Daneben sehen verschiedene andere Gesetze für einzelne Gruppen von Arbeitnehmern zusätzliche Bestimmungen über den Urlaub vor, konkret existieren etwa Sonderregelungen für Jugendliche in § 19 JArbSchG oder für schwerbehinderte Menschen in § 208 SGB IX.
Das BUrlG unterliegt dem ständigen Einfluss europäischer Gesetzgebung sowie den Entscheidungen des BAG oder des EuGH. Die letzten Jahre waren besonders von wegweisenden und mitunter auch richtungswechselnden Entscheidungen der Gerichte geprägt. Viele Arbeitgeber mussten ihre bisherige betriebliche Urlaubspraxis deshalb hinterfragen und anpassen. Ein aktueller Themenschwerpunkt der Arbeitgeber ist die Frage, wie lange der Arbeitnehmer den Urlaub eigentlich behält bzw. unter welchen Voraussetzungen dieser verfällt. Neue Weichen für den Urlaubsverfall wurden vom EuGH mit Urteil vom 06.11.2018 gestellt. Im Anschluss hat das BAG mit Urteil vom 19.02.2019 (9 AZR 423/16) diese Entscheidung umgesetzt. Die Arbeitgeber müssen nun, um die Grundlage für einen Verfall von Urlaubsansprüchen zu schaffen, aktiv werden und ihre Arbeitnehmer informieren und zum Nehmen des Urlaubs auffordern (Mitwirkungsobliegenheit).
Bis zu den angesprochenen Entscheidungen war es für Unternehmen einfach, einen Verfall des Urlaubs herbeizuführen. Sie mussten nur abwarten, ob der Arbeitnehmer seinen Urlaub tatsächlich bis zum Ende des Kalenderjahres oder im Falle einer Übertragung bis zum 31.03. des Folgejahres nahm. Tat er das nicht, war der Urlaub grundsätzlich verfallen, denn die Ausgangslage im deutschen Recht ist, dass der Urlaubsanspruch gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG grundsätzlich mit Ablauf des 31.12. des Urlaubsjahres erlischt. Ausnahmsweise, bei Vorliegen besonderer Übertragungsvoraussetzungen (dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe), erlischt der Urlaub erst mit Ablauf des 31.03. des Folgejahres (§ 7 Abs. 3 Satz 2 und 3 BUrlG). Weitere Anforderungen an den Verfall sind dem Wortlaut des § 7 Abs. 3 BUrlG nicht zu entnehmen.
Neue Verfallvoraussetzungen
Nach neuer Sicht des EuGH und des BAG ist eine unionsrechtskonforme Auslegung von § 7 BUrlG vorzunehmen. Diese führt dazu, dass die dargestellten Verfallvoraussetzungen ausschließlich unter Beachtung weiterer „besonderer Umstände“ zum Verfall des Urlaubs führen können. Ein solcher „besonderer Umstand“ liegt vor, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer in die Lage versetzt hat, tatsächlich den Urlaubsanspruch auszuüben. Nach Ansicht der Europäischen Richter sei es nämlich unbedingt zu vermeiden, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit erhält, sich unter Berufung auf den fehlenden Urlaubsantrag des Arbeitnehmers seiner eigenen (Hinweis-)Pflichten zu entziehen. Dem folgt das BAG und entschied, dass der Arbeitgeber den Arbeitnehmer „in die Lage zu versetzen hat, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt“; so BAG vom 19.02.2019.
Dieses In-die-Lage-versetzen geht über pauschale und nicht mitarbeiterspezifische Hinweise hinaus. Arbeitgeber müssen ihre Arbeitnehmer über den Umfang des Urlaubs sowie dessen möglichen Verfall zum Jahresende und die Übertragungsmodalitäten rechtzeitig unterrichten und zugleich zur Inanspruchnahme des Urlaubs auffordern. Zudem wird empfohlen, den Hinweis in Textform zu erteilen, was auch aus Gründen einfacherer Nachweisbarkeit ratsam ist.
Demgegenüber sind allgemeine Hinweise im Arbeitsvertrag, in Aushängen, auf Merkblättern oder in Rundmails nicht ausreichend.
Wichtig ist, dass jedem Arbeitnehmer individuell erkennbar ist, welchen Urlaubsanspruch oder konkreten Resturlaubsanspruch er noch hat, verbunden mit der Aufforderung des Arbeitnehmers, den Urlaub rechtzeitig zu nehmen.
Zum richtigen Zeitpunkt der Mitwirkungsobliegenheit (Hinweis- und Aufforderungspflichten des Arbeitgebers) empfiehlt sich, diese sowohl zum Jahresbeginn und ggf. noch einmal in der zweiten Jahreshälfte, am besten im dritten Quartal, zu geben. Zum Jahresbeginn kann dann auch nochmals auf das Erlöschen etwaig übertragenen Urlaubs mit Ablauf des 31.03. aufmerksam gemacht werden.
Fehlt es an einer ordnungsgemäßen Information, so erlischt der Urlaub in den Folgejahren ausschließlich dann, wenn er doch noch genommen wird oder die Unterrichtung nachgeholt wurde und er sodann nicht mehr genommen wird. Erfüllt ein Arbeitgeber die Mitwirkungsobliegenheit alternativ überhaupt nicht, so werden die Resturlaubsansprüche in das folgende Kalenderjahr übertragen und dem Urlaubsanspruch des Folgejahres hinzugerechnet. Dies kann letztlich zu einer ewigen Urlaubsübertragung führen.
Besonderheiten des Verfalls bei langandauernder Krankheit
Bereits im Jahr 2011 und 2012 haben der EuGH und das BAG (Urteil vom 07.08.2012 – 9 AZR 353/10) entschieden, dass der Urlaubsanspruch bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit nach Ablauf eines Zeitraums von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres, in dem der Anspruch entstanden ist, untergeht. Das BAG hat mit Urteil vom 07.09.2021 (9 AZR 3/21 [A]) festgehalten, dass dies auch ohne Beachtung der Mitwirkungsobliegenheit jedenfalls für solche Urlaubsjahre gilt, in denen der Arbeitnehmer ganzjährig erkrankt war. Die fehlende Möglichkeit des Arbeitnehmers, den Urlaubsanspruch in solchen Jahren zu nehmen, beruht laut BAG nämlich auf der Erkrankung und nicht auf der unterlassenen Information.
Der EuGH hat im September 2022 entschieden, dass für das Jahr, in dem der Arbeitnehmer dauerhaft erkrankte oder erwerbsgemindert wurde, die Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers erfüllt werden muss. Wenn also Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres noch arbeitsfähig sind und erst im weiteren Verlauf dauerhaft arbeitsunfähig oder erwerbsgemindert werden und damit ihren Urlaub noch hätten nehmen können, muss der Arbeitgeber auch hier zuvor entsprechend unterrichten.
Da eine Krankheit oft überraschend eintritt, ist Arbeitgebern zu empfehlen, die Arbeitnehmer frühzeitig im Kalenderjahr zu informieren, am besten zu Beginn eines jeden neuen Kalenderjahres.
Kein Schutz für Altfälle zu erwarten
Zu beachten ist, dass ausweislich der Rechtsprechung des BAG kein Bestandsschutz für Altfälle existiert. Die Entscheidungen des EuGH seien vielmehr auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die vor Erlass der Vorabentscheidung begründet wurden, so BAG vom 19.02.2019. Ein Vertrauensschutz kann laut EuGH von nationalen Gerichten grundsätzlich nicht gewährt werden.
Gestaltungsmöglichkeiten im Arbeitsvertrag
Die beschriebene Rechtsprechung bezieht sich auf den gesetzlichen Mindesturlaub. Mehrurlaub ist für deutsche Arbeitsverhältnisse durchaus typisch. Der vertragliche Mehrurlaub kann von dem gesetzlichen Mindesturlaub unabhängig und abweichend geregelt werden, wofür jedoch deutliche Anhaltspunkte vorliegen müssen.
In praktischer Hinsicht sollte sich jeder Arbeitgeber aber zunächst selbst die Vorfrage beantworten, ob eine vertraglich vereinbarte unterschiedliche Handhabung des Mehrurlaubs für ihn wirtschaftlich und praktisch sinnvoll ist, da damit regelmäßig ein verwaltungstechnischer Mehraufwand verbunden sein dürfte.